Dieser Beitrag erschien ursprünglich im Jahr 2010 auf flintcynic.com, das mittlerweile zu anderen Zwecken umgebaut wird. Von dort stammen auch die zugeordneten Kommentare. Alle Fotos sind von Claus Hock/edition flint.
Halt. Stadion „Neue Welt“ in Magdeburg? Wo ist das denn bitte und warum heißt das so? Beantworten wir doch Frage Zwo zuerst – ich habe keine Ahnung. Fakt ist, dass schon 1911 das an der Königsborner Straße 11 (heute Berliner Chaussee) stehende Gasthaus den Namen Waldschänke „Neue Welt“ führte. Dieses Gasthaus, das heute noch vorhanden ist, bestand ursprünglich (1879) aus einem eher bescheidenen Ausflugslokal, aber in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt der Besitzer Ernst Döring, dem auch die Dampfbierbrauerei in Gommern gehört, eine rege Bautätigkeit. Am wichtigsten ist gleich der erste Bauabschnitt, der das Gebäude in seiner Grundfläche mehr als verdoppelt. Döring lässt einen Anbau mit Tanzsaal errichten, der über eine Bühne von 29,86 Quadratmetern verfügt – 0,14 Quadratmeter unter dem polizeilich zugelassenen Höchstmaß. 385 Sitzplätze sind um die Tanzfläche gruppiert, die mit 280 Quadratmetern fast die Hälfte des Anbaus einnimmt. Mit dem Brandschutz nimmt es der Betreiber allerdings nicht so genau wie eine Rechnung der Bauschlosserei Lüderitz über den „zwangsweisen“ Einbau von „selbsttätig zufallend“ gestalteten feuer- und rauchsicheren Türen – Brandschutztüren würden wir heute sagen – zeigt. Kaum sind die Brandschutztüren im Februar 1911 eingebaut, geht der nächste Bauantrag bei der Stadt ein: Döring möchte den Tanzsaal erweitern, außerdem wird am nördlichen Ufer des Sees auf dem Grundstück ein so genanntes Tanzzelt errichtet, ein Pavillon, dem 1913 noch eine Küche angebaut wird.
Dann allerdings ist erstmal Schluss mit dem Amüsierbetrieb in der Neuen Welt. Im Weltkrieg werden Rekruten des 12. Landsturm-Infanterie-Ersatzbataillons auf dem Gelände einquartiert, allerdings unter Bedingungen, die den „Regeln der Hygiene hohnlachen“, wie es in einem Brief an die Stadt heißt, in dem um Zuweisung eines anderen Quartiers gebeten wird. In der Neuen Welt herrsche Dysenterie, da die einzig funktionierenden Wasser-Toiletten für die Offiziere vorgesehen sind und die Mannschaftsgrade nicht eben vorschriftsmäßig Latrinen gegraben haben. Das Trinkwasser sei verseucht und unter den „Rückkehrern aus dem Osten könnten Typhusträger“ sein. Von der Cholera wolle der Briefschreiber gar nicht erst anfangen. Die Stadt verspricht Abhilfe, allerdings ist nicht klar, in welcher Form. Es gibt keine weiteren Briefe zu diesem Thema.
Nach dem Krieg gibt es mal wieder Mängelberichte. 1921 finden sich an der elektrischen Anlage unzulässig überbrückte Sicherungen. Außerdem wird festgestellt, dass der Bühnenvorhang nicht aus schwer entflammbarem Material ist. Eine erneute Aufforderung zur Mängelbeseitigung lehnt der neue Eigentümer, Wolfgang Liesegang, ab. Er habe die Leuchtmittel aus der Beleuchtungsanlage entfernt, da er den Tanzsaal „anderen Zwecken zugeführt“ hat. Welche Zwecke das sind, lässt ein weiteres Schreiben an die Stadt erahnen, in dem Liesegang sein Unverständnis über eine baupolizeiliche Maßnahme ausdrückt: Er soll zwischen der Wohnung eines seiner Mieter – das ehemalige Ausflugslokal ist jetzt Wohnhaus – und dem Strohlager eine Brandschutzwand ziehen. Ein Strohlager ist also 1924 aus dem einst beliebten Ausflugslokal geworden.
Bald darauf aber beginnt die wohl beste Zeit für das Gelände. Eigentümer ist jetzt das 1924 in Magdeburg gegründete „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Bund deutscher Kriegsteilnehmer und Republikaner“. Schritt für Schritt bauten die Reichsbannerleute das Gelände aus, es entstanden ein Fußball- und Leichtathletikstadion mit Tribüne, Tennisplätze samt Wettkampfcourt, sowie weitere Sportplätze und eine Schießbahn. Das ehemalige Ausflugslokal diente nun als Verwaltungsgebäude und am Badestrand wurden Umkleiden und ein neues Restaurant errichtet. Schließlich wurde 1929 der Bau des Sprungturms beantragt, der in Stahlbetonbauweise auf dem Grund des Sees verankert ist. Der Zugang erfolgte einerseits über einen Steg direkt vom Ufer, aber auch direkt aus dem Wasser. Sprünge aus 10, 6 und 3,25 Meter waren nun möglich. Das Strandbad wird schließlich im Mai 1930 eröffnet. Im selben Jahr opfert man einen Teil der Tennisplätze dem Bau einer Tankstelle des Deutschen Benzol-Vertriebs (ein Vorläufer der Firma Aral), die mindestens bis in die 1950er Jahre bestand. Kaum aber hatte sich das Reichsbanner im Stadion „Neue Welt“ etabliert, da machte sich Deutschland auf den Weg ins Tausendjährige Reich. Das Gelände fiel an die Stadt, die ebenda 1933 begann, die Europa-Kampfbahn zu errichten.
Magdeburg war als Ausrichter der IV. Schwimm-Europameisterschaften bestimmt worden, und im August 1934 sollte es soweit sein. Eine gute Gelegenheit für den Magdeburger Schwimm-Club von 1896 (einer der beiden großen Magdeburger Schwimmvereine, der andere war Hellas) sich zu präsentieren, denn die 96er waren als Ausrichter vor Ort bestimmt worden. Mit dem Bau der Wettkampfstätte wurde hingegen die Wilhelmsbad eGmbH beauftragt. Die Anlage wurde schließlich an der Stelle errichtet, an der sich vor der Umgestaltung durch das Reichsbanner noch ein Fischteich befunden hatte. Im ursprünglichen Entwurf vorgesehene runde Enden der Zuschauertribünen wurden begradigt, womöglich passte das einfach besser in die „neue Zeit“. Trotz knapp bemessenen Zeit wurden die Anlagen rechtzeitig fertig – Bauträger war die Deutsche Arbeitsfront – und konnten im Juni 1934 übergeben werden.
Am 12. August wurden die Europameisterschaften dann mit dem Einmarsch der teilnehmenden Nationen im Stadion Neue Welt eröffnet, aber im Gegensatz zur heutigen Praxis bei Olympischen Spielen fanden auch schon an diesem Tag Wettkämpfe statt. Am Abend gab es dann noch den obligatorischen Empfang der Ehrengäste und „Mannschaftsführer“, wie die Magdeburgische Zeitung schreibt, durch die Stadt Magdeburg. Über acht Tage ziehen sich die Wettkämpfe in der eng besetzten Europa-Kampfbahn, eingerahmt vom Begrüßungsabend am Vorabend der Eröffnung und dem gemeinsamen Ausflug der Athleten nach Goslar und Hahnenklee am 20. August. Man stelle sich einmal vor, bei der Europameisterschaft würden die Athleten heute noch nach den Wettkämpfen gemeinsam irgendwohin fahren. Überhaupt wirkt die ganze Veranstaltung sehr viel familiärer als heutzutage vorstellbar.
So ist beispielsweise die frühere Schwimmlegende Ete Rademacher (Olympiagold und -silber, mehrere Weltrekorde) als Starter zumindest in den Finals aktiv, wo ihm dann auch ein Lapsus unterläuft. Beim Finale über 100 Meter Freistil der Frauen versagt die Starterpistole – was die Athletinnen nicht daran hindert zu starten. Pudelnass muss also ein zweiter Versuch unternommen werden, der dann auch klappt. Souverän gewinnt die niederländische 16-jährige Weltrekordlerin Willy den Ouden in 1:07,1. Sie wird auch mit der Staffel Europameister, auf ein mögliches Wiederholungsrennen über 400 Meter Freistil verzichtet sie zugunsten ihrer Teamkollegin Rie Mastenbroek; beide hatten nach 5:27,4 angeschlagen. Die Deutschen schneiden ganz gut ab, allerdings weniger im Schwimmen als vielmehr in den Sprungwettbewerben, wo sie alle vier Titel gewinnen. Letztlich gewinnt Deutschland die seinerzeit prestigeträchtige Nationenwertung vor dem großen Konkurrenten Ungarn.
Die Magdeburgische Zeitung zieht zum Ende der Wettkämpfe eine positive Bilanz: Nicht nur sei die Veranstaltung gelungen, sondern „[es] geht trotz einiger Mängel jedenfalls im deutschen Schwimmsport aufwärts.“ Natürlich ist auch Wehmut dabei, wenn der Autor A. F. schreibt: „Europa war bei uns zu Gaste und scheidet nun wieder. Für die Menschen, die hierhergekommen sind, wird das trotz allem nicht so besonders schwer sein, weil sie es ja gewohnt sind, Gastspiele zu geben und dann wieder davonzufahren. Wir aber sehen solche Tage nicht allzuoft in unseren Mauern. Sie sind für uns sehr gezählt und wir müssen lange daran zehren. […] Deshalb strömte Magdeburg hinaus nach der Kampfbahn und gab sich ein Stelldichein mit den Internationalen, zum letzen Mal.“ (Magdeburgische Zeitung, 20. August 1934)
In der Tat versinkt die Anlage bald darauf in einer Art Dornröschenschlaf, aus dem sie nur erweckt wird, wenn etwas auszubessern ist, wie die immer wieder nachgebenden Spundwände. 1939 werden schließlich die Tribünen beseitigt, die einerseits zu groß sind für den Bedarf in Magdeburg, obwohl ausschließlich Magdeburger Clubs zwischen 1932 und 1939 die Mannschaftsmeisterschaft im Schwimmen gewinnen – Hellas sieben-, der MSC von 1896 einmal. Andererseits wurden die Tribünen ja in großer Eile errichtet, was sich vermutlich auch auf die Qualität auswirkte. Die Tribünen werden durch etwa halb so hohe ersetzt, immer noch 3,6 Meter hoch. Insgesamt finden nun 1.680 Personen im Schwimmstadion Platz. Der Zweite Weltkrieg macht der Entwicklung des Geländes dann ein Ende, obwohl das Schwimmbad noch im Kriege in Benutzung ist und seine Instandhaltung auch als kriegswichtige Maßnahme eingeschätzt wird: Die Bevölkerung soll sich schließlich amüsieren, auch wenn ringsum alles in Trümmer fällt.
Am Ausgang des Krieges erlebt das Stadion Neue Welt seine dunkelste Stunde. Im Mai 1933 schon war die ehemalige Bundesschule des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold von der SA in ein Sammellager für „Schutzhäftlinge“ umgewandelt worden. Das Polizeigefängnis und das so genannte Braune Haus, das neu eingerichtete Gefängnis der Gestapo in der Nähe des Kloster Unser Lieben Frauen, waren durch die Verhaftungswelle nach den Märzwahlen 1933 völlig überbelegt. Etwa 200 Häftlinge wurden daher in primitiven Baracken bis August 1933 in der Neuen Welt untergebracht, vor allem solche, für die in den anderen Magdeburger Sammellagern in der Rudolfschen Villa oder am Zollhafen kein Platz mehr war. Im August 1933 wurde das Lager aufgelöst, die noch verbliebenen Häftlinge wurden in das KZ Lichtenburg gebracht. Die dunkelste Stunde des Stadions Neue Welt schlug erst 1945, als die SS dort 25 weibliche KZ-Häftlinge aus Polen ermordete und in einem Bombenkrater verscharrte. 1951 fand man die sterblichen Überreste. Heute erinnert ein Gedenkstein an diese Frauen und die Opfer des SA-Lagers.
Ab den 1950er Jahren wird das Stadion dann wieder als Erholungsstätte genutzt. Da werden dann Kassenhäuschen gebaut, am Nordufer des Sees ein Strandkaffee und Umkleiden errichtet, wobei die bereits vorhandenen Fundamente aus den 1930ern benutzt werden. Auch das erste Hochschulsportfest der damaligen Hochschule für Schwermaschinenbau fand hier statt. Das war 1955.
Zumindest in den 1960er Jahren wird das Tanzlokal als Gaststätte der HO genutzt, später soll aber auch noch eine Nutzung in Form eines Kreiswehrersatzamts stattgefunden haben. Bis in die späten 1980er Jahre bleibt das Gelände ein Erholungsgebiet, wobei der Badesee auch wegen des Sprungturms eines der beliebtesten Magdeburger Gewässer ist. Noch 1985 werden 10 Finnhütten am Nordufer des Sees aufgestellt, aber bereits nach der Saison 1989 ist Schluss mit dem Badevergnügen – der See ist umgekippt. In einem Gutachten zur möglichen Sanierung aus dem Jahre 1993 wird ausgeführt, dass die im Seewasser gelöste Menge Phosphor, durch die Bodenbeschaffenheit sowieso schon überdurchschnittlich, durch die Beanspruchung des Sees als Badegewässer durch 63.000 Badegäste im Sommer 1989 enorm angestiegen sei und sich außerdem Unmengen an Keimen im See fänden, die zum Großteil auch von den Badegästen herein getragen wurden. Eine chemische Sanierung sei nicht empfehlenswert. Zunächst könne sie nur einmal alle zehn Jahre durchgeführt werden und außerdem habe sie Auswirkungen auf das Grundwasser.
Das Gutachten empfiehlt letztlich die Errichtung eines Beckenbads wegen der gestiegenen Anforderungen an den Grundwasserschutz. Eine weitere Nutzung des Sees als Badegewässer wird ausgeschlossen, auch weil die nutzbare Fläche auf 20% reduziert ist – in der DDR lag sie laut Vorschrift bei 33%.
Wir bedanken uns bei Frau Popko vom Liegenschaftsservice der Stadt Magdeburg für die Führung über das Gelände, sowie beim Bauaktenarchiv und dem Stadtarchiv Magdeburg für die Unterstützung.
Update: Nachdem sich gegen Ende des Jahres 2012 einige Parteien für die Nutzung des Geländes interessierten, brannte Ende Januar das ehemalige Tanzlokal. Da kein Stromanschluss bestand, geht die Polizei von Brandstiftung aus. Die Feuerwehr konnte nur noch das kontrollierte Abbrennen des Gebäudes gewährleisten. Wieder einmal ist der Stadt Magdeburg ein denkmalgeschütztes Gebäude unter mysteriösen Umständen verloren gegangen.