Gestern erbrachte ich den Großteil des Tages damit, an einem handbetriebenen Mikrofilmlesegerät zu sitzen – sehr wenig ergonomisch übrigens, Bildschirmunterkante auf Augenhöhe und und dann 20 Zentimeter nach oben, Genickstarre vorprogrammiert, und dass die Filmrolle antichronologisch aufgerollt war, half aucht nicht wirklich – und meinen Herrn Vater bei der Recherche zu unterstützen. Der schreibt nämlich grad an einer Zeitungsserie zum Thema „Die preußische Provinz Sachsen auf dem Weg ins Dritte Reich“. Anlass ist natürlich die „Machtergreifung“ der Nazis vor 75 Jahren. Aber darum geht es hier nur am Rande. Beim Studium der Zeitungen fiel mir auf, dass dort einige Wörter anders benutzt werden, als es heutzutage der Fall wäre.
Ein Beispiel ist das Wort „gelegentlich“. Gelegentlich benutzen wir heutzutage ja meist im Sinne von „wenn es mir passt“ oder „ab und zu“, wenn wir zum Beispiel sagen, „gelegentlich komme ich an der Ecke Reuter-Allee/Breiter Weg vorbei“ oder „ich komme dich gelegentlich besuchen“. In den Zeitungen fand ich jedoch lediglich die Verwendung im Sinne von „anlässlich“ oder schlicht „bei“. (Der Duden lässt im übrigen beide Möglichkeiten zu und scheint sich nicht ganz einig, welches die häufigere ist.)
Zum Beispiel meldet die Saale-Zeitung, ein deutschnationales Blatt, nicht zu verwechseln mit der Regionalzeitung aus der fränkischen Rhön, folgendes in ihrer Ausgabe vom Dienstag, 4. Juli 1933:
Der Adjutant des Reichskanzlers Adolf Hitler, Brückner, untersagt das Werfen von Blumen auf den Wagen des Führers gelegentlich der Fahrten und Aufmärsche.
Wie man sieht, heißt gelegentlich hier „anlässlich“. Aber das eigentlich interessante ist ja die Frage: Warum wird das Werfen von Blumen untersagt? Ist der Führer allergisch? Oder hat er einfach ob der schieren Menge an Blumen Atemnot? Fragen über Fragen, die die Zeitung nicht beantwortet. Schade eigentlich.
Eine andere Meldung, die auch in diesen Zeitraum fällt, aber nicht in der Saale-Zeitung, sondern in den Hallischen Nachrichten stand, lautet so:
Bezeichnung „Lutherstadt“ abgelehnt
Eisleben. Wie der Magistrat mitteilt, ist das Gesuch um Verleihung der Bezeichnung „Eisleben-Lutherstadt“ vom Preußischen Minister des Innern abgelehnt worden. Der Antrag war in der Hauptsache deswegen gestellt worden, um die vielen Fehlleitungen bei der Post, Bahn usw. zu vermeiden.
Tatsächlich heißt Eisleben erst seit dem 17.2.1946 „Lutherstadt“.
Update: Die Magdeburgische Zeitung vom 4. Juli (Haupt-Ausgabe) gibt bezüglich der Blumenwürfe weitere Aufklärung. Der Führer ist weder allergisch, noch leidet er unter Atemnot. Vielmehr hat man Angst um sein Augenlicht. Es heißt dort:
Keine Blumen werfen!
Mitteilung des Adjutanten des Reichskanzlers
Berlin, 3. Juli. Der Adjutant des Reichskanzlers, Brückner, teilt mit: Bei den letzten großen Aufmärschen und Fahrten haben die Zuschauer wieder ein Bombardement mit Blumen auf den Wagen des Führers eröffnet. Dieses Werfen mit Blumen ist mit Gefahren für die Wageninsassen verbunden, wie wiederholte Vorfälle gezeigt haben. So erhielt kürzlich einer der Begleiter durch einen mit voller Wucht geschleuderten, auf Draht gebundenen Blumenstrauß eine Gesichtsverletzung und hatte es nur einer rechtzeitigen Kopfwendung zu verdanken, daß nicht ein Auge gefährdet wurde. Das Werfen von Blumen auf den Führerwagen ist deshalb strikt untersagt.
P.S. Im Stadtarchiv Magdeburg gibt es Mikrofilmlesegeräte mit motorisierter Spuleinrichtung und Kopierfunktion. Ein Segen.