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Hysterie

oder: Was ist eigentlich die „Evangelische Kirche“?

Heute berichtet Spiegel Online unter der Überschrift „Grundanständige Gesinnung“ und der Dachzeile „Evangelische Kirche über Eichmann“, dass die „Evangelische Kirche lobende Worte für Eichmann“ gefunden habe, nachdem der in Argentinien untergetauchte Eichmann in Israel vor ein Gericht gestellt werden sollte.

Ganz subtil wird in Dachzeile und Lead vermieden, „Evangelische Kirche in Deutschland“ zu schreiben. Aber die Wortkette Eichmann, Evangelische Kirche und „Brief an die Bundesregierung“ erweckt natürlich den Eindruck, es handele sich eben um die EKD, die dem Kriegsverbrecher Eichmann da ein Leumundszeugnis ausstellt.
Man muss schon den ganzen, zugegebenermaßen recht kurzen, Text lesen, um zu erkennen, dass es sich bei dem besagten Brief an die Bundesregierung lediglich um einen Brief des Linzer Superintendenten handelt, der da „grundanständige Gesinnung“, „gütiges Herz“ und „große Hilfsbereitschaft“ in einem Brief über Eichmann verwendet und hinzusetzt, es gehe über seine Vorstellungskraft, dass Eichmann „je zu Grausamkeit oder verbrecherischen Handlungen fähig gewesen wäre“.
Es handelt sich aber dabei mitnichten um ein Generalurteil der „Evangelischen Kirche“, sondern wohl eher um ein Schreiben, dass auf Initiative von Eichmanns Geschwistern verfasst wurde – wenn auch von einem in der Organisationshierarchie weit oben angesiedelten Individuum.

Damit man aber die Evangelische Kirche in Deutschland noch mit in dem Artikel unterbringen kann, muss noch erwähnt werden, dass „Bischof Hermann Kunst, Vertreter der EKD bei der Bundesregierung, das Schreiben Mensing-Brauns an das Auswärtige Amt weiter[leitete] – mit dem Hinweis, das Votum sei ‚mindestens interessant‘.“ Das SpOn aus dem bloßen Weiterleiten eines Briefs hier ein Einsetzen für Eichmann von Bischof Kunst herbeiinterpretiert, halte ich doch für fragwürdig. Der Bischof leitete da ein Schreiben zu einer tagesaktuellen Frage an die Regierung der Bundesrepublik weiter, die sich zur Eichmannproblematik irgendwie positionieren musste.1 Leider schreibt SpOn nicht, wann genau dieses Schreiben weitergeleitet wurde, so dass man nicht klar sagen kann, wie weit die Entscheidungsfindung der Bundesregierung hier schon gediehen war. Auch die zugrunde liegende Interpretation der Formulierung „mindestens interessant“ als eine Art Zustimmung zur Einschätzung des Superintendenten ist für mein Verständnis problematisch. Es gibbt wohl kaum ein Wort, dass derart wenig Wertung mitbringt wie das Wort „interessant“, zumal auch noch in einem diplomatischen Zusammenhang.

Interessant ist, dass es dieses Schreiben gibt, und es ist auch als Dokument der Zeitgeschichte sicher wertvoll für Historiker. Um jetzt der Evangelischen Kirche an sich, zumal in Deutschland, eine wie auch immer geartete Nähe zu Eichmannapologeten2, ist es jedoch denkbar ungeeignet. Gerade bei der Beurteilung historischer Dokumente, die mit dem Holocaust zusammenhängen, ist in meinen Augen wesentlich mehr Zurückhaltung geboten, als Spiegel Online hier an den Tag legt.


  1. Eichmann war von einem israelischen Mossadkommando in Argentinien entführt und nach Israel gebracht worden, wo ihm der 1961 der Prozess gemacht wurde. Da es sich bei Eichmann um einen deutschen Staatsbürger handelte und die Mossadaktion auf dem Territorium des souveränen Staats Argentinien stattfand, war die Situation völkerrechtlich zumindest nicht ganz einfach. 

  2. zu denen ich auch nicht zähle 

O tempora, o mores

Guido Westerwelle sagt, wer arbeitet, müsse mehr haben, als der von staatlicher Unterstützung Lebende, alles andere sei Sozialismus. Mal abgesehen davon, dass Westerwelles Beispiel nicht stimmt, muss man sich schon wundern. Ich hätte den Guido ja für intelligenter gehalten als die Solidarität-ist-gleich-Sozialismus-Nummer abzuziehen, aber so kann man sich irren. Widerspruch gibt’s genug, angefangen bei den üblichen Verdächtigen in SPD (achja, Hartz IV, wer hat’s erfunden?) und Gewerkschaften bis hin zur CSU. Ja, die CSU weist (zu Recht) darauf hin, dass „Solidarität […] nicht sozialistisch, sondern ein Grundwert unserer Wirtschaftsordnung [ist]“. Aber hey, so ein bisschen Verunglimpfen von Millionen Mitbürgern, die ja schließlich alle Hartz-IV-Freiwillige sind, hat ja noch nie geschadet. Ein Guido Westerwelle fällt nicht um1

Noch ein anderes Thema, auch beackert von den politischen Spitzen: Der Atomausstieg. Ich sehe den ja durchaus kritisch, aber das Argument für Kritik am neuen Bundesumweltminister, das heute gefallen ist… Also darauf wäre ich nicht gekommen. Der Bundesumweltminister hat doch tatsächlich der CDU nahegelegt, sie solle sich „gut überlegen, ob sie gerade die Kernenergie zu einem Alleinstellungsmerkmal machen will“. Was wie ein guter Rat klingt, ist natürlich eine Abkehr von der Koalitionsvereinbarung, in der ja drinsteht, man wolle die Laufzeitverlängerung von AKWs und diese AKWs in ein Energiekonzept einbetten.
Wie? Ist es nicht? Ja, das dachte ich auch. Bis die Umweltminister von Bayern, Baden-Württemberg und Hessen heute erklärten: „Wir sind vor der Bundestagswahl für längere Laufzeiten der Kernkraftwerke eingetreten, und das muss auch so bleiben.“
Einhalten von Wahlversprechen. Ganz neue Taktik.


  1. Ich musste bei dieser Formulierung ganz spontan an einen beliebten deutschen Fußballer denken. Der spricht allerdings gern von sich selbst in der dritten Person. 

Die fehlkonstruierende Fehlkonstruktion

Der Spiegel von dieser Woche (Nr. 40/09) hat das Titelthema „Fehlkonstruktion Mensch – Warum wir für die moderne Welt nicht geschaffen sind“.

Dazu nur kurz zwei Dinge. Zunächst mal – wieso Fehlkonstruktion? Genauer gesagt, wieso Konstruktion? Das setzt einen Konstrukteur voraus, oder? Ich weiß, die Evolutionstheorie ist ja nur eine schöne neue Theorie und überhaupt gibt es ja hunderttausende von Gegenbeweisen, so dass es natürlich völlig legitim und ideologisch gar nicht aufgeladen ist, von der „Fehlkonstruktion“ zu sprechen.
Die andere Frage bezieht sich auf die Unterzeile „Warum wir für die moderne Welt nicht geschaffen sind“. Ist es wirklich so, dass der Mensch nicht für die moderne Welt geschaffen ist? Mag sein, der Spiegel beantwortet diese Frage wohl mit ja (wobei man angesichts äußerst verworrener Spiegelthemen ja vorsichtig sein muss), aber ist das denn die entscheidende Frage? Wäre es denn nicht viel sinnvoller zu fragen, warum wir Menschen uns eine moderne Welt geschaffen haben, die offensichtlich mit unseren psychisch-physiologischen Bedürfnissen nicht korreliert, sondern uns im Gegenteil vor schwere Probleme stellt? Hier wäre ein Ansatz gewesen für ein interessantes Titelthema, aber nö, der Spiegel betätigt sich ja lieber als Wiederkäuer der Wissenschaft.

Auswandern

Blickt man sich vor den Bundestagswahlen in der politischen Landschaft um, wird man über kurz oder lang von einer Depression befallen.
Da gibt es einen Innenminister, der immer mal wieder Ideen hat, wie man doch das Grundgesetz oder andere lustige demokratische Einrichtungen verändern könnte, um mehr Sicherheit zu erlangen. Da gibt es eine Familienministerin, die lieber Stoppschilder aufstellt, als tatsächlich etwas gegen Kinderpornographie im Netz zu tun. Da gibt es Polizisten in Berlin, die statt ihre Dienstnummer herauszurücken lieber denjenigen schlagen, der danach fragt.
Dann gibt es Parteien, die sich entschließen, ihr Programm nicht durchzugendern – und dafür von angeblich progressiven Kräften angegangen werden. Dann gibt es Vize-Vorsitzende von Parteien, die ein Interview geben und dafür von großen Teilen der so genannten Blogosphäre und der Medien (zumindest von den interessierten) Prügel beziehen, aber nicht für die Inhalte des Interviews, sondern für die Zeitung, der sie das Interview gegeben haben.

Quo vadis, politische Kultur?
Bleibt eigentlich nur auswandern. Am besten nach China – da weiß man, was man kriegt.